Algorithmen für die Fabrik
Historische Daten zur
Rüstzeitprognose nutzen
Die Planung der Fertigung kann immer nur so gut sein, wie die Vorgaben und Annahmen auf denen sie basiert. Künstliche Intelligenz macht aus starren Vorgaben dynamische Prognosen. Damit wird auch die Planung deutlich realistischer.
Bei vielen Unternehmen bilden Manufacturing-Execution-Systeme zusammen mit ERP-Anwendungen das digitale Rückgrat der Fabrik und der damit verbundenen Produktionsprozesse. Ein zentraler Aspekt in beiden Systemen ist die Planung der Fertigung. Dafür wird im ERP-System auf eine Reihe von Vorgabewerten zurückgegriffen, um eine Grundlage für die zu berücksichtigende Bearbeitungsdauer eines Vorgangs und für die Übergangszeiten zwischen zwei Vorgängen eines Auftrags zu haben. Am Beispiel dieser Vorgabewerte – speziell an der Rüstzeit – lässt sich der Nutzen von künstlicher Intelligenz (KI) im MES verdeutlichen.
Herkömmliches Vorgehen
Im einfachsten Fall wurde die Rüstzeit bisher manuell gemessen (REFA-Vorgehen). Wird bereits ein MES eingesetzt, kann die Rüstzeit natürlich auch aus den erfassten Ist-Zeiten ermittelt werden. Ausreißer sollten dabei stets eliminiert werden bzw. gewichtet einfließen. Die eigentliche Komplexität bei der Rüstzeitermittlung entsteht jedoch durch die Kombination diverser Einflussfaktoren: abhängig vom verwendeten Werkzeug kann die Rüstzeit für ein Produkt variieren, Farbwechsel vergrößern oder verkleinern die Rüstzeit, gegebenenfalls sind weitere Faktoren zu berücksichtigen. Ein MES deckt diese Variabilität oftmals mit integrierten Funktionen ab, in der die Übergänge mit zeitlichen Zu- oder Abschlägen gepflegt und dann bei der Feinplanung berücksichtigt werden können. Abhängig von der Anzahl der Einflussfaktoren resultieren daraus oftmals kaum noch zu überblickende Stammdatenuniversen. Genau an diesem Punkt könnte künstliche Intelligenz die Spielregeln verändern.
Zeitgemäßes Vorgehen mit KI
Durch KI – speziell durch Machine Learning – kann die Rüstzeit auf der Basis historischer Daten vorausgesagt werden. Grundlage hierfür bildet der Paradigmenwechsel zwischen der klassischen Programmierung und Machine Learning. War bei der klassischen Programmierung ein detailliertes Verständnis des abzubildenden Sachverhalts und seiner Einflussfaktoren notwendig, um aus Eingangsdaten mit Hilfe des erstellten Programms Ergebnisdaten zu erzeugen, entfällt das aufwendige und restriktive Verständnis des Sachverhalts und seiner Einflussfaktoren durch den Einsatz von Machine Learning. Auf der Basis historischer Daten aus dem MES (wie lange hat das Rüsten bezogen auf die Kombinationen aus Artikel, Maschine, Werkzeug, ? unter Berücksichtigung der Schicht, ? tatsächlich gedauert) wird das ‚Programm‘ erstellt, welches man bei Machine Learning auch als Modell bezeichnet. Durch die Verwendung historischer Daten bei der Modellerstellung können diese auf ihre Eigenschaft als Einflussfaktor untersucht werden. Eine Dokumentation all dieser Faktoren im MES wäre in den meisten Fällen aufgrund der Komplexität kaum sinnvoll. Für viele Unternehmen würde die Ausweisung der tatsächlichen Einflussfaktoren auf Basis der historischen Daten schon einen Mehrwert darstellen.
Worauf es bei KI ankommt
Bei der Modellbildung macht sich auch die Leistungsfähigkeit der verwendeten KI-Engine bemerkbar. Leistungsfähige KI-Engines zeichnen sich dadurch aus, dass sie die für die Modellbildung verwendeten historischen Daten selbständig aufbereiten können. Hierzu zählt im Rahmen der Vorbereitung auf die eigentliche Modellerstellung neben der Datensynchronisation auch die unüberwachte Anomalie-Erkennung – also die automatisierte Erkennung und Bereinigung der Trainingsdaten um Ausreißer. Dieses Vorgehensmodell, welches den herkömmlichen und größtenteils manuellen CRISP-DM-Ansatz automatisiert, wird auch als Automated Data Science bezeichnet. Der eigentliche Clou besteht jedoch in der Verwendung des erzeugten Modells und somit der Vorhersage der Rüstzeit. Wird beispielsweise ein Arbeitsgang auf einer Maschine zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Werkzeug eingeplant, werden diese und gegebenenfalls weitere Daten verwendet, um auf Basis des zuvor erstellten Modells die wahrscheinliche Rüstzeit vorherzusagen. Da in einer Fertigung nicht nur bekannte Artikel gefertigt werden, sondern auch immer wieder neue Artikel oder Variationen davon hinzukommen, braucht es auch hierfür Vorgehensweisen, da in diesem Fall keine historischen Daten vorliegen. Eine gute KI-Engine wird die Prognose auf Basis bekannter Daten und Ähnlichkeitserwägungen berechnen. Die KI agiert dabei im Wesentlichen wie die manuelle Pflege erfolgen würde: ein Experte schließt von vergleichbaren Artikeln, Werkzeugen etc. auf die neue Kombination. Die Prognose wird damit nicht die Genauigkeit erreichen, die bei Kenntnis aller Faktoren möglich wäre, liegt jedoch sicherlich auch nicht hinter den herkömmlichen manuellen Schätzungen zurück. Liegen für den neuen Artikel historische Daten vor, können diese in einer erneuten Modellgenerierung ebenfalls verwendet werden und in das Modell einfließen. Dieser Closed-Loop ist ein weiteres wichtiges Merkmal einer leistungsfähigen KI-Engine – die Selbstüberwachung im Spannungsfeld zwischen Modell und Prognosequalität. Die KI-Engine sollte die Vorhersagequalität fortwährend überwachen und bei deren Abfall eine erneute Modellbildung auf der Basis der aktuellen historischen Daten anstoßen.
Sichtbare Verbesserung der Planung
Was die Rüstzeitvorhersage im Vergleich mit der herkömmlichen Methode über ERP-Vorgabezeiten und die Ergänzung über die Rüstwechsel-Module leisten kann, wurde auf der Basis von mehreren realen Produktionsszenarien untersucht. Es zeigt sich, dass die KI-basierte Vorhersage den herkömmlichen Vorgabemechanismen deutlich überlegen ist. Die planerische Einsparung lag im Bereich von etwa 20 Prozent und konnte im Untersuchungszeitraum an 53 von 56 Tagen bestätigt werden.
Ausblick
Während sich KI im privaten Bereich durch Siri, Alexa und Co. schon stark verbreitet hat, steckt der Einsatz im Fertigungsumfeld noch in den Kinderschuhen. Neben der technischen Barriere, die durch Automated Data Science umgangen werden kann, steht dem Einsatz natürlich auch die Frage im Weg, wie gut die KI tatsächlich ist und ob man ihr produktive Einsatzgebiete in der Fertigung anvertrauen möchte. Dieses Vertrauen kann beispielsweise aufgebaut werden, indem man dem Anwender die Möglichkeit gibt, das erstellte Modell auf der Basis der historischen Daten detailliert zu untersuchen. Kombiniert man das methodische Knowhow eines KI-Spezialisten mit der Praxisnähe eines MES-Anbieters, so können schnell einsetzbare Standardprodukte und flexible Lösungen entstehen. Deren Hauptvorteil besteht darin, dass die zur Verfügung stehenden Daten nicht erst aufwendig vorbereitet werden müssen. Damit können Kosteneinsparungen von bis zu 80 Prozent gegenüber dem heute üblichen Vorgehen gemäß CRISP-DM möglich werden.